Auch ohne Corona wäre 2020 ein Jahr der Weichenstellungen gewesen. Die Pandemie bog die Gleise beinahe zum Bersten. Mit dem Rennen um das Weiße Haus, dem Ende der Übergangsphase zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union, den Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU-27 und der damit einhergehenden zukünftigen Schwerpunktsetzung des Kollektivs, stand genug auf dem Spiel—Covid-19 hat all diese Dynamiken verkompliziert. Sei dies auf überstaatlicher, nationaler oder individueller Ebene. Das Europäische Forum Alpbach setzt deshalb dieses Jahr besonders starken Fokus auf die Verzerrungen und Potenziale, die die Pandemie mit sich bringt.
Auf überstaatlicher Ebene wurde die Resilienz von multilateralen Regimen und die Solidarität zwischen zwischenstaatlichen Allianzen auf die Probe gestellt. Früh trat die Frage auf, ob Corona bestehende weltpolitische Dynamiken verändern oder beschleunigen würde. Würden bestehende Konfliktlinien wie jene zwischen den USA und China lediglich vertieft und wir mit dem rise of the rest in eine post-amerikanische Weltordnung eintreten? Würde es zu einer Abkehr von der bisher als unaufhaltsam scheinenden Globalisierung als Nachwirkung von Versorgungsengpässen kommen?
Verena Nowotny und Heinz Gärtner debattierten Zukunftsperspektiven für unsere Post-Corona-Welt mit Blick nach Osten und Westen. Dabei wurde erörtert, ob mit dem großen Decoupling zwischen den USA und China auch die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konfliktes steigt. Bringt diese Trennung auch die nachhaltige Unterminierung unseres Handelssystems mit sich? Könnte eine Biden-Präsidentschaft diesen Trend abwenden oder ist der von Trump beschrittene Pfad nun unumkehrbar? Und wo findet Europa seinen Platz zwischen diesen Polen?
Die Antwort der EU-27 auf die Corona-Pandemie ließ jedenfalls Zweifel aufkommen, was die EU im Innersten zusammenhält. Stärker als die temporär wiedererrichteten Grenzen drohte mangelnde Solidarität, den Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten nachhaltig zu unterminieren. Andernorts nahmen die sechs Mitglieder der East African Community die Pandemie zum Anlass, grenzüberschreitenden Handel zu reformieren, wussten Ebby Khaguli, Hanngtone Amol und Allen Sophia Asiimwe zu berichten. Grenzbeamte wurden systematisch mit Masken und Schutzanzügen versorgt, um einen schnellen Gütertransport sicherzustellen. Digitales Tracking von Transporten wurde initiiert. Kenia und Rwanda funktionierten ihre Passagierflugzeuge um, um anfänglich unterbrochene LKW-Transporte zu kompensieren. Kenianische Mobilfunkanbieter reduzierten Gesprächskosten, um ihre Kunden von physischem Menschenkontakt abzuhalten.
Die nationalen Implikationen der Corona-Krise diskutierte Landesrat Martin Eichtinger mit uns, erörterte die Rolle der Regionen in Europa und wie wir mit künftigen Pandemien umgehen müssen. Neben schneller Reaktion wird beim nächsten Fall Prävention eine tragende Rolle spielen.
Denn Corona war kein Black-Swan-Ereignis. Weder war es die erste Pandemie unserer Generation noch fehlten Studien über das Gefahrenpotenzial dieser Eventualität. Kein schwarzer Schwan also, sondern ein graues Nashorn, wie Leopold Schmertzing festhielt: Eine absehbare Gefahr mit bekannten Folgewirkungen, deren Wahrscheinlichkeit trotzdem ignoriert wurde.
Wir hier am Schneeberg haben uns an die besonderen Umstände jedenfalls gewöhnt und verfolgen mit genügend Abstand und Maske die spannenden Inhalte des Europäischen Forums Alpbach.
von Stefan Pfalzer